Pioniere betreten wissenschaftliches Neuland

Dieser Artikel erschien in der zm 24/2000

Viel Zeit für den Probanden

Die Probanden zeigten sich sehr kooperativ bei der umfangreichen Untersuchung und Befragung, wie Prof. Elke Hensel berichtet. Pro Patient seien vier Stunden vorgesehen, ausgiebig Zeit für eine gründliche Vorgehensweise. Auch für den Probanden selbst sei es wichtig, etwas über den eigenen Gesundheitszustand zu erfahren.

Schwerpunkt der medizinischen Untersuchungen sind:

< • Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
• Neurologische Erkrankungen,
• Alkohol- und Suchtkrankheiten,
• Diabetes mellitus,
• Krebserkrankungen,
• Zahnmedizinische Erkrankungen,
• Umwelt- und arbeitsmedizinische Aspekte,
• das subjektive Vorsorgeverhalten, die Inanspruchnahme von medizinischen und zahnmedizinischen Versorgungs- und Präventionsleistungen.

Schwerpunkte des zahnmedizinischen Untersuchungsteils sind:

• Erfassung von Mundschleimhauterkrankungen,
• Kronen- und Wurzelkaries,
• Parodontopathien,
• Zahnverlust und dessen Versorgung,
• Dysgnathiesymptome,
• Symptome von kraniomandibulären Dysfunktionen.

Erfasst werden, und zwar an ein und demselben Probanden, der medizinische und zahnmedizinische Gesundheitszustand, der Sozialstatus, die Inanspruchnahme von medizinischen Diensten und weitere Verhaltensparameter. Untersuchungsinstrumente sind ein Befragungsteil mit Interview und Selbstbeantwortungsbogen sowie ein weitreichender Untersuchungsteil. Dieser besteht aus Somatometrie, EKG, Echokardiographie, Blutdruckmessung, einer sonographischen Untersuchung der Durchlässigkeit der Gefäße (zur Bestimmung der Schlaganfallgefährdung), einer Untersuchung der Schilddrüsenfunktion, einem neurologischen Screening und einer klinischen Labordiagnostik.

Es schließt sich ein zahnmedizinischer Untersuchungskomplex mit Interview an. Der Fragekomplex im Interview ist umfangreich: so wird der Proband nach seiner subjektiven Überzeugung zur Mundgesundheit gefragt, nach der Inanspruchnahme von zahnärztlichen Diensten, nach seinen persönlichen Erfahrungen mit dem zahnmedizinischen Gesundheitssystem, dem eigenen Mundhygieneverhalten und dem eigenen Bild des Mundgesundheits- und Funktionszustandes. Sehr umfassend ist auch der zahnmedizinische Untersuchungsteil. Das fängt an bei der Mundschleimhaut, geht weiter über Funktionsanalysen, Parodontologie, allgemeinzahnärztliche Befunde bis hin zur Kieferorthopädie. Insgesamt werden 1 217 Parameter abgefragt. Alle Befunderhebungen sind so aufgebaut, dass klassische Index- und Gruppierungsmethoden angewandt werden können. Letztendlich wird es so möglich sein, einen Mundgesundheitsindex für unterschiedliche Altersgruppen aufzustellen. Eine solch umfangreiche Untersuchung lässt eine Fülle von Prävalenzangaben und Zusammenhangsanalysen zu, das ermöglicht die wissenschaftliche Überprüfung von Beziehungen zwischen medizinischen, zahnmedizinischen und sozioökonomischen Daten.

In den assoziierten Projekten, insgesamt zwölf an der Zahl, werden die Probanden von SHIP unter ganz speziellen medizinischen und zahnmedizinischen Fragestellungen untersucht. Aus Platzgründen können hier nicht alle genannt werden. Zum Beispiel geht es um die Bestimmung von Risikofaktoren zum frühzeitigen Erkennen von Diabetes, um den Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Verkehrsgefährdung oder um medizinische und soziale Folgen des Alkoholmissbrauchs. Abgeschlossen sind zum Beispiel ein Projekt zur Impfung von Kindern, zur Prävalenz von Atemwegserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in Greifswald sowie ein arbeitsmedizinisches Projekt über die Pestizidbelastung in der Bevölkerung.

Interesse international

Im zahnmedizinischen Bereich wird der Zusammenhang zwischen Munderkrankungen und kraniomandibulären Dysfunktionen untersucht. Projektleiter ist Prof. Dr. Thomas Kocher, Leiter der Abteilung für Parodontologie. Die wissenschaftliche Welt schaue mit wachsender Aufmerksamkeit auf dieses große Projekt, wie er betont. Im internationalen Bereich habe die Studie be-reits für Aufsehen gesorgt, da es nur wenige ihrer Art gebe. So baue das amerikanische National Institute of Health (NIH) zusammen mit sieben weiteren Ländern ein Netzwerk zum Problem des Zusammenhangs zwischen kardiovaskulären Erkrankungen und Parodontalerkrankungen auf. Deutsches Zentrum im Netz sei Greifswald.

Das Projekt besteht aus vier Teilprojekten:


• Untersuchungen zur Differenzialdiagnostik degenerativer Erkrankungen der Kiefergelenke (Leitung: Prof. Dr. Georg Meyer),

• Dysfunktionen und Strukturveränderungen des stomatognathen Systems unter dem Langzeiteinfluss von Zahnstellungs-und Okklusionsanomalien (Leitung: Prof. Dr. Elke Hensel),

• Untersuchung zur Effektivität und Effizienz unterschiedlicherTherapiekonzepte bei rasch fortschreitender Parodontitis (Leitung: Prof. Dr. Thomas Kocher),

• Strukturveränderungen und Dysfunktion des Kauorgans durch kurative Rekonstruktion der Kaufläche (Leitung: Prof. Dr. Reiner Biffar).

Ziel aller Teilprojekte ist es, herauszufinden, welche morphologischen, funktionellen oder iatrogen entstandenen Risikofaktoren die Mundgesundheit beeinträchtigen können. Daraus können zum Beispiel Schlussfolgerungen für die Entwicklung bevölkerungswirksamer und zielgruppenorientierter Präventionsprogramme, für die Qualitätssicherung der zahnärztlichen Behandlung, für die Ausbildung der Studenten oder die Fortbildung der Zahnärzte gezogen werden. Eine follow-up-Studie von SHIP nach fünf Jahren ist geplant. Dazu gehört auch die Anschlussforschung im zahnmedizinischen Bereich. So soll zum Beispiel der Erwachsenensurvey durch Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen ergänzt werden. Auch der Gerostomatologie wird ein Projekt gewidmet. Hier soll es um Hygiene- und Versorgungsbedingungen gehen sowie um die Entwicklung von Betreuungskonzepten. Weiterhin geht es um Zusammenhänge zwischen Parodontalerkrankungen und koronaren Herzerkrankungen.

Auch für den Ausbildungsbereich ergeben sich Konsequenzen. So gibt es in Greifswald bereits jetzt schon einen Aufbaustudiengang "Dental Informatics and Community Dentistry". Derzeit ist man dabei, Fortbildungsprogramme für Zahnärzte zu entwickeln mit dem Abschlussziel "Master of Dental Science (M.D.S.)". Im Hinblick auf EU-Vorgaben und Erfahrungen in den USA wollen die Wissenschaftler hier internationale Kompatibilität aufbauen.

"Interessant an diesem Großprojekt ist die Verquickung von Medizin und Zahnmedizin aus epidemiologischer Sicht", erklärt Dr. Dietmar Oesterreich, Präsident der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern. Es handele sich hierbei um ein Projekt der wissenschaftlichen Medizin und Zahnheilkunde, bei denen fachliche Aspekte im Vordergrund stehen, erläutert er gegenüber zm.

Befürchtungen haben sich erübrigt

Das Greifswalder Projekt "Community Medicine" wurde anfangs von der zahnärztlichen Standespolitik äußerst kritisch vor dem Hintergrund ständiger gesetzgeberischer Einschnitte in das Gesundheitswesen beobachtet. Doch Befürchtungen, es handele sich um Tendenzen in Richtung Staatsmedizin und dirigistische Planung, konnten inzwischen längst ausgeräumt werden. Wichtig sind hier die Gedanken der Vernetzung und die Erzielung von Synergieeffekten, die auf breiter wissenschaftlicher Basis abgesichert sind. Ein regelmäßiger Informationsaustausch zwischen Standespolitikern und den Greifswalder Wissenschaftlern sorgte für den Abbau von Vorbehalten auf beiden Seiten. Nicht zuletzt führte eine ausführliche Arbeitstagung im September 1995, bei der auch der damalige Präsident der Bundeszahnärztekammer Dr. Fritz-Josef Willmes und weitere Standespolitiker teilnahmen, zu einer Versachlichung der Diskussionen.

Oesterreich weiter: Wichtig sei, die verschiedenen Aspekte mit einzubeziehen. So sei eine wichtige Forderung der Zahnärzteschaft, dass sich nach Auswertung der Studienergebnisse alle Beteiligten an einen Tisch setzten, um über die Auswirkungen auf die Zahnheilkunde im Hinblick auf die Versorgungssituation zu beraten. Dazu gehöre sowohl die Wissenschaft, die Zahnärzteschaft und die Gesundheitspolitik. Hier sehe er ein breites Feld von Auswirkungen, was sowohl die Fortbildung, den Versorgungsaspekt, die Qualitätssicherung, Präventionsprogramme und die Erkrankungssituation der Menschen betreffe. Es gebe im Hinblick auf die Qualitätssicherung und die technologische Fortschritte in den Praxen Handlungsbedarf. Oesterreich: "Wir müssen Tendenzen erkennen und diese in gesundheitspolitische Vorstellungen und Programme integrieren."

An diesem Punkt zeigt sich auch die Bedeutung des Projektes für den zahnärztlichen Kollegen in der Praxis. Vernetztes Denken, die Kenntnis um zahnmedizinische Belange auch im medizinischen Kontext, die Verbindung kurativer Aspekte mit Gesichtspunkten der Versorgung, all dies sind Faktoren, die im Alltag des Zahnarztes immer mehr eine Rolle spielen. Auf die Auswertung der Studie werden neben der wissenschaftlichen Welt auch die niedergelassenen Zahnärzte sehr gespannt sein.

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