Pioniere betreten wissenschaftliches Neuland

Dieser Artikel erschien in der zm 24/2000

In der kleinen traditionsreichen Universitätsstadt Greifswald betreten Mediziner und Zahnmediziner Neuland. Hier wird ein Forschungsprojekt durchgeführt, das sich inzwischen nicht nur national, sondern international einen Ruf gemacht hat: Community Medicine, ein Modell, das in der Bundesrepublik in seiner Art erstmalig eingerichtet wurde. Herzstück ist die Study of Health in Pomerania - kurz SHIP genannt, eine epidemiologische Großuntersuchung über Leben und Gesundheit in Vorpommern.

Greifswald - eine alte Hansestadt mit einer ehrwürdigen wissenschaftlichen Tradition. Hier werden seit kurzem ganz neue Wege in der medizinischen und zahnmedizinischen Forschung eingeschlagen. Mit dem Forschungsschwerpunkt Community Medicine ist ein Projekt geschaffen worden, das in Deutschland bisher einmalig ist. Es geht um Epidemiologie, ein Fachgebiet, auf dem es in der Bundesrepublik - im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA oder Skandinavien - noch erheblichen Nachholbedarf gibt.

Community Medicine ist ein Arbeitsgebiet der Medizin, das sich zwischen Public Health auf der einen und der kurativen Medizin auf der anderen Seite einordnen lässt. Wesentliches Ziel ist die Verbesserung des Gesundheitszustandes in einer regional definierten Bevölkerung. Dementsprechend und im Sinne einer bevölkerungsrelevanten Medizin bilden die besonders verbreiteten Erkrankungen den vorrangigen Forschungsgegenstand. Ein Grundsatz der Community Medicine-Forschung besteht darin, dass ausschließlich Krankheitsbilder untersucht werden, die einen erheblichen Verbreitungsgrad in der Bevölkerung besitzen. Dadurch ergibt sich eine Nähe zwischen Forschungs- und Versorgungsaspekten.

Die Schwerpunktverlagerung bei Community Medicine und Dentistry sowohl in Forschung, Therapie und Lehre von der Krankheitsbeseitigung zur Gesundheitsförderung wird angestrebt. Diese Disziplin integriert alle Aspekte der Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung.

Neu für deutsche Ohren

Dieser Ansatz klingt für deutsche Ohren neu, ist aber im Ursprung bereits im England der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert geboren, als man sich erstmals Gedanken um den Gesundheitszustand von Industriearbeitern machte. Der Gedanke der Populationsmedizin findet sich in Forschungsarbeiten aus den USA und Skandinavien wieder. Während sich die Community Medicine zunächst mit dem Aufzeigen der Gesundheitsprobleme in der Bevölkerung beschäftigt, ist es Aufgabe von Public Health, sich um die Umsetzung dieser Erkenntnisse zu kümmern.

Der Standort Greifswald war aus mehreren Gründen für ein solches Forschungsvorhaben günstig, erklärt Prof. Dr. Elke Hensel, Stellvertretende Sprecherin des Forschungsverbundes, im Gespräch mit zm. An erster Stelle ist die Nähe - sowohl geographisch als auch von der wissenschaftlichen Verbindung her zu Skandinavien gegeben.

Hinzu kommt, dass die Universitätskliniken in der Stadt gleichzeitig die Teile der Grund und für die Maximalversorgung in der Region zuständig sind; die Bevölkerung ist daran gewöhnt, in die Klinik zu gehen. Prof. Dr. Georg Meyer, Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Kinderzahnheilkunde, betont die Wichtigkeit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit. So habe man bis in die kleinsten Gemeinden über die Bürgermeisterämter und weitere öffentliche Einrichtungen um Akzeptanz geworben, damit die Bürgerinnen und Bürger, die für das Projekt angesprochen wurden, auch eine Sensibilität dafür entwickeln konnten, was man von ihnen wollte.

Ein weiterer Vorteil sei, so ergänzt Hensel, dass in den beiden Untersuchungsregionen eine relativ homogene Bevölkerungsgruppe zu finden sei, die sich auch längerfristig nicht so schnell ändern werde, ein Faktum, das gerade auch für follow-up-Studien wichtig sei, um die Kontinuität zu wahren.

Der Greifswalder Forschungsverbund Community Medicine ist mit einer Vollversammlung und einem Vorstand organisiert. Verantwortlichkeiten, Datennutzung und Publikationsregeln sind in einer Geschäftsordnung festgelegt. Sprecher ist Prof. Dr. Christof Kessler, Chef der Klinik und Poliklinik für Neurologie. Die wissenschaftliche Gesamtleitung von SHIP obliegt Prof. Dr. Ulrich John, Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin.

Der Forschungsverbund umfasst drei Projektarten:

  • Erstens eine Basisstudie (SHIP), dabei handelt es sich um eine medizinische Bevölkerungsuntersuchung.
  • Zweitens mit der Basisstudie assoziierte Projekte (siehe Abbildung). Hier werden Probanden oder Datenmaterial aus der Basisstudie mit speziellen Fragestellungen untersucht.
  • Drittens befinden sich weitere Projekte in der Durchführung. Sie verfügen über die Anerkennung als Community-Medicine-relevant durch den Forschungsverbund Community Medicine, beziehen aber keine Daten oder Probanden aus der Basisstudie.

Herzstück: SHIP

Der Schwerpunkt des Forschungsprojekts in seiner derzeit laufenden Anfangsphase besteht in epidemiologischen Untersuchungen verbreiteter Erkrankungen. Das zentrale Projekt ist die Regionale Basisstudie Vorpommern, genannt Study of Health in Pomerania (SHIP) oder auch "Leben und Gesundheit in Vorpommern". Die epidemiologische Großstudie ist eine Querschnittstudie, die in Nord-Ostvorpommern, einer Region mit insgesamt 212000 Einwohnern, vorgenommen wird. Sie ist im Oktober 1997 gestartet und endet im Dezember 2001. Bisher sind über 4000 Probanden aus Vorpommern in einer Zufallsstichprobe im Alter zwischen 20 bis 79 Jahren aus 32 Gemeinden untersucht und zu gesundheitlichen Themen befragt worden. Der Rücklauf beträgt rund 64 Prozent. Die Auswahl erfolgte nach Gemeinden und in einer Fünf-Jahres-Schichtung nach Altersgruppen und Geschlecht. Insgesamt fast 30 Mitarbeiter (Wissenschaftler und andere) sind hauptamtlich an der Studie beteiligt. Sechs davon werden von der Universität finanziert, der Rest aus den Fördermitteln.

Darüber hinaus sind zahlreiche Wissenschaftler der Universität mit Anteilen ihrer Forschungskapazität beteiligt. Die SHIP-Studie wird mit rund acht Millionen DM gefördert, zu fast gleichen Anteilen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Land Mecklenburg-Vorpommern (vor allem vom Kultusministerium und mit einem kleineren Anteil auch vom Sozialministerium).

Grundlagen für bessere Versorgung

Ein Großteil der Daten sei bereits erhoben worden, so Elke Hensel, die auch die wissenschaftliche Leiterin des zahnmedizinischen Anteils von SHIP ist. Derzeit kämpfe man damit, mit wenig Kapazitäten riesige Datenberge zu bewältigen, um die Ergebnisse zeitnah zu präsentieren. "Wir arbeiten daran", sagt sie. Die Daten werden die wissenschaftliche Grundlage für bessere Rückschlüsse zur medizinischen Versorgung liefern. Zwar lassen sich auch jetzt schon, bevor die Datenerhebung komplett ist, einige Rückschlüsse und Tendenzen erkennen, die die Greifswalder Wissenschaftler jedoch verständlicherweise noch bis zur endgültigen Publikation unter Verschluss halten. Soviel lässt sich jedoch zumindest für den zahnmedizinischen Bereich schon sagen: Gerade im Bereich Parodontologie benötigt man noch sehr viel mehr Aufklärung in der Bevölkerung. Das Bewusstsein über Zahnbetterkrankungen ist bei vielen Probanden so gut wie nicht vorhanden. Der Bildungsfaktor spielt beim Gesundheitsverhalten eine große Rolle und Präventionsprogramme müssen sich vor allem an Risikogruppen richten. Aus dem gesamten Datenmaterial werden sich später Prognosen zu den Ansprüchen an die Medizin und Zahnmedizin für Mittel- und Kleinstädte mit ländlichem Umfeld (also entsprechend dem in der Region Vorpommern) ableiten lassen. Die Untersuchung und Befragung der Probanden erfolgt in zwei eigens dafür eingerichteten Untersuchungszentren, von denen sich eines in Greifswald und eines in Stralsund befindet. Das Stralsunder Zentrum ist vor kurzem geschlossen worden, da dort die Untersuchungen bereits abgeschlossen wurden. Es ist gelungen, ein breites Spektrum medizinischer Fachgebiete in die Untersuchung zu integrieren. Der methodische Anspruch ist hoch. Das gilt vor allem für die Qualitätssicherung bei der Datenerhebung. Der Datenschutz spiele eine wichtige Rolle, betont Hensel, und die Daten würden streng anonymisiert. Ein so genanntes Data Safety and Monitoring Committee, bestehend aus externen Wissenschaftlern, überwacht die Datenerhebung und Verarbeitung. Internationale Vergleichbarkeit und eine größtmögliche Verlässlichkeit der Daten sind ein wichtiges Anliegen.

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